Radium 223 und der Kampf gegen Prostatakrebs
Bayers Mittel gegen fortgeschrittenen Prostatakrebs, der in die Knochen gestreut hat, zählt zu den außergewöhnlichsten Produkten des Unternehmens. Produktion und Versand dieser zielgerichteten Therapie unter Einsatz von Alpha-Teilchen sind eine ständige Herausforderung.
„Irgendwo auf der Welt lebt ein schwerkranker Patient mit Prostatakrebs, dem ein Medikament verschrieben wurde, das er im Kampf gegen seinen Krebs dringend benötigt. Da zählt jeder Tag“, sagt Ingo Ocklenburg, Global Strategic Sourcing Manager in der Einkaufsorganisation von Bayer.
Seine Aufgabe ist es, mit dem von ihm entwickelten Transportkonzept dafür zu sorgen, dass das Präparat, das an zwei Produktionsstandorten in Norwegen und in den USA hergestellt wird, innerhalb kürzester Zeit beim Patienten ist – egal, wo auf der Welt er sich befindet. „Wir beliefern innerhalb von 48 Stunden Australien – das ist unser weitester Lieferweg“, so Ocklenburg. Und fügt hinzu: „Ich arbeite seit 1982 mit dem Thema Luftfracht. Mit einem derart herausfordernden Produkt wie diesem hatte ich es noch nie zu tun.“
Das Medikament wurde für Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakrebs, der in die Knochen gestreut hat, entwickelt und ist seit 2013 auf dem Markt. Das Präparat enthält Radium-223-dichlorid, was außergewöhnliche Herausforderungen an Produktion und Vertrieb stellt. Jeder Patient, der mit diesem radioaktiven Wirkstoff behandelt wird – die Strahlung reicht gerade einmal 0,1 Millimeter weit, was dem Umfang von zehn menschlichen Zellen entspricht –, erhält eine eigens für ihn berechnete Dosis. Die benötigte Menge ist unter anderem vom Körpergewicht des Patienten abhängig. So benötigt eine 120 Kilogramm schwere Person unter Umständen den Inhalt von zwei Arzneimittelfläschchen, während ein 50 Kilogramm schwerer Patient möglicherweise nicht einmal ein ganzes Fläschchen benötigt.
Das Präparat ist unter anderem deswegen besonders, da es die einzige zugelassene zielgerichtete Therapie ist, die Alpha-Teilchen abgibt. Diese Alpha-Teilchen weisen eine hohe Energie auf, haben jedoch nur eine sehr geringe Reichweite im Körper. Somit wird das die Krebszellen umgebende Gewebe also weitestgehend geschont.
Der Zeitfaktor spielt deshalb eine so entscheidende Rolle, weil das Medikament nach und nach seine Wirkung verliert. Radium-223-dichlorid hat eine Halbwertszeit von 11,4 Tagen, das bedeutet: Nach diesem Zeitraum ist die Strahlung nur noch halb so stark. Nach 28 Tagen ist sie so gering, dass das Produkt nicht mehr für die medizinische Behandlung von Patienten geeignet ist. Das Verfallsdatum ist erreicht und es muss entsorgt werden. Mit Blick auf die Beschaffung, die Produktion und den Vertrieb bedeutet dies: Präzision und höchste Termintreue sind geboten. Jede Produktionseinheit, jeder Transport, jede Auslieferung ist ein Wettlauf mit der Zeit.
Für den Logistiker Ingo Ocklenburg hat dies zur Folge, dass er stets mindestens zwei Transportoptionen zugleich parat haben muss: Fällt eine aus, wird auf die Back-up-Lösung zurückgegriffen. Standardlösungen kommen bei diesem Präparat nie in Frage. „Bei der Produktentwicklung wurde die Logistik sehr früh eingebunden. Das war für den Erfolg entscheidend“, ist sich Ocklenburg sicher.
Seit seiner Markteinführung ist die Nachfrage nach dem Produkt kontinuierlich gestiegen. „Zwischen 2014 und 2018 haben wir die Produktionsmenge verdoppelt. Radium-223 von Bayer ist heute das weltweit mit Abstand bedeutendste radioaktive Produkt, das Menschen injiziert wird“, sagt Thomas Birger Eden-Jensen, Head of Product Supply Operations der Division Pharmaceuticals in Oslo, Norwegen.
Trotz aller über die Jahre gesammelten Erfahrungen mit dem Medikament gibt es noch Optimierungspotenzial. „Wir arbeiten momentan daran, die Effizienz zu steigern, Kosten zu senken und die Produktion und Lieferkette möglichst schlank zu organisieren“, sagt Eden-Jensen. Obwohl es also noch Verbesserungspotenzial gibt, antwortet er auf die Frage, wo er auf einer Skala von 0 bis 10 den Zustand von Produktion und Beschaffung ansiedelt, geradeheraus: „8“.
Sicherheit geht vor: Wie das Produkt für den Transport verpackt wird
Für den Transport seines Radiopharmazeutikums hat Bayer einen Spezialbehälter entwickelt. Schließlich gilt es, bei einem radioaktiven Wirkstoff zu 100 Prozent auszuschließen, dass versehentlich Strahlung austritt. Transporttechnisch gesehen handelt es sich um „Gefahrgut“. Somit sind strengste Sicherheitsanforderungen zu erfüllen, ob auf der Straße, zu Wasser, auf den Schienen oder in der Luft.
Bayers zielgerichtete Alpha-Therapie wurde im Mai 2013 für den Markt zugelassen. Bereits ein Jahr zuvor hatte man damit begonnen, die Verpackungsfrage zu lösen. Der Transportbehälter sei in mehreren Schritten optimiert worden, sagt Ocklenburg. Die radioaktive Kochsalzlösung im 10-Milliliter-Phiole ist zunächst von einer Bleibox umgeben, die wiederum von einer Styroporhülle umschlossen ist. „Ein kleiner Würfel mit Bleicontainer“, so nennt es Ocklenburg. Dadurch wird gewährleistet, dass das Medikament sicher von seinem Herstellungsort zum Patienten transportiert wird.
Transportgerecht verpackt, befindet sich das Medikament in einem strahlungssicheren Würfel mit den Maßen 20 x 20 x 20 cm. Die Vision ist laut Ocklenburg, den Würfel noch kleiner und handlicher zu gestalten. Allerdings sind auch hier wieder Sicherheitsvorschriften zu beachten: Für Gefahrgutbehälter gibt es Mindestabmessungen, die nicht unterschritten werden dürfen. Sicherheit geht eben vor.