Personalisierte Medizin – maßgeschneiderte Lösungen statt Ansatz von der Stange
Möglicherweise hören Sie immer häufiger den Begriff „personalisierte Medizin“ und fragen sich, was er eigentlich bedeutet. Ist es wirklich möglich, eine Behandlung zu bekommen, die nur für mich gemacht ist?
Nun, nicht ganz, aber dank der enormen Fortschritte in unserem Verständnis dafür, wie unser Körper und bestimmte Krankheiten funktionieren, können wir jetzt ein viel genaueres Bild davon entwickeln, welche Medikamente für eine bestimmte Person am besten geeignet wären. Bei der personalisierten Medizin geht es daher darum, eine Behandlung bereitzustellen, die weitaus maßgeschneiderter ist, indem sie auf bestimmte Attribute abzielt, die individuell verschieden sein können.
Zunächst können wir Patienten anhand gemeinsamer Merkmale definieren - Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Krankengeschichte, Lebensstil. Durch Eingrenzung dieser Gruppen können wir weitaus genauere Patientenprofile erstellen. Aber um wirklich jeden Einzelnen zu verstehen, müssen wir genauer hinschauen.
Jeder von uns hat sein eigenes Genom, den vollständigen Satz genetischer Anweisungen, der den Bauplan des Körpers definiert. Durch DNA-Sequenzierung können wir eine detaillierte Karte des Genoms eines Individuums erstellen und dann nach Veränderungen oder Mustern von Genen suchen, die potenzielle Risiken aufzeigen oder der Treiber für eine bestimmte Krankheit sein könnten. Insbesondere für einige Krebsarten sind genomische Veränderungen innerhalb der Krebszellen bekannt, die nachweislich das Wachstum eines Tumors antreiben. Wenn sie wissen, ob ein Tumor diese spezifische Veränderung aufweist, können Ärzte in vielen Fällen die richtige Behandlung für diesen Patienten ermitteln. Aber auch über Krebs hinaus hilft dieses Wissen Forschern, wirksamere Medikamente zu entwickeln, und Ärzten, Krankheiten mit weitaus größerer Präzision zu diagnostizieren und zu behandeln.
Verstehen, was uns zu uns macht
Kliniker haben jahrzehntelang versucht, eine Versorgung bereitzustellen, die besser auf den Einzelnen zugeschnitten ist, beispielsweise das Verständnis, dass unterschiedliche Blutgruppen unterschiedliche Transfusionen erfordern. Es war der Aufstieg der medizinischen Genetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach der Entdeckung der DNA-Struktur, der die Möglichkeit eröffnete, Patienten anhand ihres genetischen Codes zu diagnostizieren.
Dies gipfelte im Humangenomprojekt1 - einem internationalen Programm, dessen Ziel es war, alle Gene des Menschen vollständig abzubilden und zu verstehen. Es begann in den frühen 1990er Jahren und im Jahr 2003 wurde die vollständige Sequenz von rund 20.500 menschlichen Genen fertiggestellt und veröffentlicht.
Diese historische Arbeit hat einen enormen Einfluss darauf, wie wir Krankheiten heute untersuchen und behandeln. Zum Beispiel konnten wir seitdem die genetische Basis oder genomische Variation von Tausenden von Krankheiten identifizieren. Gleichzeitig hat es dazu beigetragen, die Geschwindigkeit und Genauigkeit sowie - was wichtig ist - die Zugänglichkeit der DNA- und RNA-Sequenzierung erheblich zu verbessern.
Schnelle, groß angelegte und kostengünstige DNA-Sequenzierung treibt das rasant wachsende Gebiet der Genomik, die Untersuchung von Genen, voran. Und dies ist das Kernstück für die Bereitstellung der nächsten Generation personalisierter Medizin.
Wo sind wir jetzt? Mehr individuell zugeschnittene Krebsbehandlungen
Viele Krankheiten, einschließlich einiger Krebsarten, werden durch Veränderungen in der genomischen Zusammensetzung einer Zelle verursacht, wodurch die Zelle krebsartig wird. Genomik kann diese Veränderungen identifizieren und mithilfe einer ständig wachsenden Anzahl von Genomtests nach ihnen suchen.
Die Onkologie ist derzeit führend bei der Verwendung der Genomik, um wirksamere Krebsbehandlungen zu entwickeln. Einerseits stehen Gentests zur Verfügung (die die vererbten Gene eines Individuums testen), um die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten aufzuzeigen und den Beginn einer vorbeugenden Behandlung zu ermöglichen. Auf der anderen Seite können Ärzte, wenn jemand bereits Krebs hat, eine Biopsie des Tumors durchführen und die Tumorzellen durch umfassende genomische Tests analysieren. Dabei werden mittels DNA- oder RNA-Sequenzierung sowie Big-Data-Analysen Anomalien, sogenannte Biomarker, im Tumor identifiziert und damit gezieltere Behandlungen ermöglicht.
Derzeit sind im Krebsgenomatlas in den USA2 wichtige genomische Veränderungen bei mehr als 30 Krebsarten erfasst. Einige von ihnen treiben den Krebs an (onkogene Treiber), einige von ihnen sind sogenannte „begleitende Veränderungen“, die eine bestimmte Krankheit kennzeichnen, aber nicht unbedingt die einzigen Treiber für diese Erkrankung sind. Obwohl noch ein langer Weg vor uns liegt, ist das Potenzial für detailliertere Diagnosen und die Entwicklung besserer Behandlungen umso größer, je mehr Biomarker wir identifizieren können.
Genomik hilft Forschern auch dabei, die Faktoren zu entdecken, die dazu führen, dass manche Menschen krank werden und andere nicht. Menschen sind zu 99,9 Prozent in ihrer genetischen Ausstattung identisch. Die verbleibenden 0,1 Prozent enthalten wichtige Hinweise3 sowohl auf die Ursachen von Krankheiten als auch darauf, warum Menschen unterschiedlich auf verschiedene Medikamente reagieren können.
Wie sieht die Zukunft aus? Mehr als ein Ansatz “von der Stange”
Da die DNA- oder RNA-Sequenzierung immer geläufiger und kostengünstiger wird und die Genomik immer mehr Bedeutung bekommt, könnten in Zukunft viel mehr Patienten getestet und genomische Veränderungen systematischer identifiziert werden. Dies bedeutet, dass wir zukünftig von Standard-Behandlungen zu einem individuell auf den Patienten zugeschnittenen Ansatz übergehen.
Ein Schlüsselelement dabei ist die Pharmakogenomik - das Verständnis, wie ein Patient, basierend auf seinem Genom, auf ein bestimmtes Medikament reagiert. Zum Beispiel beeinflussen unsere Gene die Produktion bestimmter Enzyme in der Leber, die Medikamente metabolisieren. Diese als Polymorphismen bekannten Genvariationen können dazu führen, dass ein Medikament möglicherweise nicht richtig wirkt oder Nebenwirkungen verursacht.
Die Erstellung eines weitaus detaillierteren, ganzheitlicheren Bildes des Patienten steht im Mittelpunkt der Fortschritte in der personalisierten Medizin. Es treibt den Ausbau der Gesundheitsinformatik4 voran, bei der Patienteninformationen gesammelt, verwaltet und analysiert werden, um Muster zu identifizieren, weitaus genauere Profile jedes Einzelnen zu erstellen und damit seine Versorgung zu verbessern.
Diese Kombination aus digitaler Technologie und Gesundheitswesen wird auch außerhalb unserer Krankenhäuser und Kliniken immer wichtiger. Der Aufstieg von Smartphones und tragbaren Sensoren ermöglicht eine Echtzeit-Gesundheitsüberwachung zu Hause5 und kann durch künstliche Intelligenz dazu beitragen, potenzielle Gesundheitsprobleme vorherzusagen, indem einzelne Marker analysiert und auf ganzheitliche Weise bewertet werden.
Menschen dazu befähigen, sich gezielt um ihre eigene Gesundheit zu kümmern
“Wissen ist Macht” - dies gilt auch für personalisierte Medizin. Wenn die Menschen genaue Einblicke in ihre individuellen Bedürfnisse bekommen, können sie sich eigenständig und gezielt um ihre Gesundheit kümmern. So gibt es mehrere Faktoren - Lebensstil, Alter, Beruf -, die zu einem unausgewogenen Verhältnis von Mikronährstoffen im Körper führen können. Dies wiederum kann das Immunsystem schwächen. Personalisierte Vitamine können dem Einzelnen maßgeschneiderte Mikronährstoffe liefern, die speziell für ihn entwickelt wurden und die er oder sie leicht in den Alltag integrieren kann. Die Informationen über die Zusammensetzung des individuellen Nährstoffhaushalts werden zum Beispiel anhand von Blutproben gewonnen. Manchmal kann es sogar ausreichen, einen individuellen Fragebogen über persönliche Gesundheitsziele und den eigenen Lebensstil auszufüllen, um festzustellen, welche Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel am besten geeignet sind. Dies setzt reinen Vermutungen ein Ende und liefert vor allem personalisierte Ernährungslösungen.
Die personalisierte Medizin ermöglicht Verbrauchern und Patienten eine aktivere Rolle für ihre Gesundheit einzunehmen. Sie erhalten eine bessere Übersicht darüber, wie sie ihre Gesundheit selbst besser managen können, und können diagnostische Tests anfordern, die ihnen eine auf sie zugeschnittene Behandlung ermöglichen.
Die Fähigkeit, die Krankheitsanfälligkeit eines Menschen besser vorherzusagen, seine wahrscheinliche Reaktion auf ein Medikament zu verstehen und eine Behandlung oder vorbeugende Maßnahmen genauer anzupassen - sowohl für Ärzte als auch Patienten wird es in der Zukunft der Gesundheit darum gehen, persönlich zu werden.
Was ist..?
Genomsequenzierung
Eine Labormethode, mit der das gesamte Erbgut eines bestimmten Organismus oder Zelltyps bestimmt wird. Diese Methode kann verwendet werden, um Veränderungen in Bereichen des Genoms zu finden. Diese Veränderungen können Wissenschaftlern helfen, zu verstehen, wie bestimmte Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs, entstehen. Ergebnisse der genomischen Sequenzierung können auch zur Diagnose und Behandlung von Krankheiten verwendet werden.6
Datenanalyse
Die Datenanalyse im Gesundheitswesen und in der Biowissenschaft nutzt verschiedene Plattformen und Datenaustauschmethoden zur Analyse und zum Vergleich bestimmter Parameter auf zellulärer, Patienten- oder Patientengruppenebene, um präzisere Medikamente, Behandlungen und diagnostische Tests zu entwickeln.7
Enzyme
Enzyme sind große biologische Moleküle (meist Proteine), die chemische Reaktionen im Körper katalysieren. Da jedes Enzym für eine bestimmte chemische Reaktion spezifisch ist, sind sie ideale Ziele für bestimmte Behandlungen.8,9,10
RNA vs. DNA
Proteine steuern die Prozesse im Körper - sowohl gesunde als auch krankhaft veränderte Prozesse. Anweisungen zum Aufbau dieser Proteine finden sich in der DNA (Desoxyribonukleinsäure): Alle Proteine werden von bestimmten Gensegmenten codiert, einige länger, andere kürzer. Um ein Protein herzustellen, kopieren Körperzellen zuerst das entsprechende DNA-Segment. Diese Kopie - die Messenger-RNA (Ribonukleinsäuren) oder mRNA - wird anschließend in ein Protein übersetzt. Jedes mRNA-Molekül entspricht somit einem bestimmten Protein. Die Analyse der Messenger-RNA in der Zelle kann somit Informationen über die gebildeten Proteine liefern - und damit über die Prozesse im Körper, auf die die Zelle abzielt.11
Der Unterschied zwischen Gentests und genomischen Krebstests
Genomische Krebstests helfen bei der Identifizierung des Wachstums und der Ausbreitung Ihres Tumors, indem Sie Ihr gesamtes Genom betrachten. Bei Gentests werden vererbte Merkmale oder Krankheitsrisiken untersucht, die möglicherweise von Generation zu Generation weitergegeben werden - basierend auf einem bestimmten Satz von Genen.
1The National Human Genome Research Institute: https://www.genome.gov/human-genome-project/What
2The National Cancer Insitute: https://www.cancer.gov/about-nci/organization/ccg/research/structural-genomics/tcga
3The National Genome Research Institute: https://www.genome.gov/about-genomics/fact-sheets/Genetics-vs-Genomics
4Journal of Health Services Research & Policy 6(4):251—254: https://www.researchgate.net/publication/225029359_What_is_health_informatics
5Future Medicine Ltd: https://www.futuremedicine.com/doi/full/10.2217/pme-2018-0044
6https://www.cancer.gov/publications/dictionaries/cancer-terms/def/genomic-sequencing
7https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fgene.2019.01107/full
8https://www.sciencedirect.com/topics/neuroscience/enzymes /
9https://www.genome.gov/genetics-glossary/Enzyme
10https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17884461/
11https://pharma.bayer.com/rna-interference