Wir müssen in großem Maßstab zusammenarbeiten, um die Nahrungsmittelkrise zu bewältigen
Nach einer Analyse der Eurasia Group werden bis November 2022 bis zu 1,9 Milliarden Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sein – hauptsächlich verursacht durch den Krieg in der Ukraine und weiter beschleunigt durch den Klimawandel und COVID-19. Diese Entwicklungen könnten, so der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, zu einem „Hurrikan des Hungers“ führen, der verhindert werden muss. Wir sprachen mit Frank Terhorst, Leiter Strategy & Sustainability der Bayer-Division Crop Science über die drohende Nahrungsmittelkrise.
Herr Terhorst, der neue Bericht der Eurasia Group stellt fest, dass „von allen Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges die Auswirkung auf die globale Nahrungsmittelversorgung nicht annähernd genug Aufmerksamkeit erhält“. Würden Sie dem zustimmen?
Ja, dem stimme ich vollkommen zu. Während die Menschen in der Ukraine mit einem andauernden Albtraum konfrontiert sind, hat die russische Invasion eine drohende Nahrungsmittelkrise in Gang gesetzt, die unsere Aufmerksamkeit und unser sofortiges Handeln erfordert. Der Krieg hat das globale Nahrungsmittelsystem aus der Balance gebracht und bringt die Gefahr einer humanitären Katastrophe mit sich. Dies kommt noch zu bereits bestehenden Problemen hinzu und führt zu Nahrungsmittelpreisen in Rekordhöhe, die sich viele Menschen in ärmeren Ländern nicht mehr leisten können. Wir haben Grund zu der Annahme, dass eine massive Unterbrechung der Versorgung sehr wahrscheinlich ist – mit schweren Folgen für Millionen von Menschen.
Der Eurasia-Bericht betont, dass unsere Nahrungsmittelsysteme bereits durch viele Gefahren strapaziert wurden, darunter der Klimawandel und COVID-19. Durch den Krieg in der Ukraine ergeben sich weitere Faktoren, die das Problem verschärfen. Können Sie erklären, warum dies ein so komplexes Problem ist und ob es eine bestimmte Bedrohung gibt, die das größte Risiko für die Nahrungsmittelsicherheit darstellt?
Es ist eine Kombination von verschiedenen Faktoren, die die Nahrungsmittelsicherheit bedrohen und zum Hunger auf der Welt beitragen. Steigende Energie- und Düngemittelkosten für Landwirte, eine Klimakrise, die Ernten zerstört, und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie setzen das globale Nahrungsmittelsystem enorm unter Druck.
Die Ukraine ist einer der wichtigsten Lieferanten der Welt von Weizen, Mais, Ölen und anderen wichtigen Erzeugnissen. Das Land hat bisher die Nahrungsmittelversorgung in Teilen des Nahen Ostens und Ostafrikas gesichert, und das Welternährungsprogramm erhält in der Regel mehr als die Hälfte seines Getreides aus der Ukraine. Vor dem Krieg prognostizierte das US-Landwirtschaftsministerium einen starken Anstieg der ukrainischen Getreideexporte auf 14 % des gesamten Weltmarktes. Jetzt wird die Ukraine nicht in der Lage sein, einen adäquaten Beitrag zu den weltweiten Nahrungsmittelexporten zu leisten. Die Landwirte arbeiten hart daran, eine Ernte später in diesem Jahr sicherzustellen. Dieses Ziel wird jedoch gefährdet, wenn sich die Konfliktzonen auf die Agrarflächen ausweiten.
Der Bericht legt nahe, dass mehrere politische Maßnahmen dazu beitragen könnten, Nahrungsmittelgerechtigkeit und -zugang zu sichern, beispielsweise die Aufrechterhaltung des Agrarhandels und die Sicherstellung des Zugangs zu bestehenden Vorräten führender Produzenten wie Indien und China. Sind dies die wichtigsten Maßnahmen, um das Problem kurzfristig zu lindern?
Es ist klar, dass der Markt allein die unmittelbaren Auswirkungen des russischen Krieges auf das globale Nahrungsmittelsystem nicht lösen wird. Was wir sofort brauchen, ist mutiges öffentlich-privates Handeln, um eine größere humanitäre Krise zu verhindern. Wir, die Unternehmen, Regierungen und internationalen Organisationen, müssen schnell eingreifen, um die Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten.
Es gibt vier Sofortmaßnahmen, die wir gemeinsam ergreifen können:
1. Wir müssen die Ernte im Kriegsgebiet unterstützen und alle Maßnahmen vermeiden, die den weltweiten Nahrungsmittelhandel stören und die globale Nahrungsmittelsicherheit beeinträchtigen würden.
2. Wir müssen wesentliche von unwesentlichen Gütern trennen. Um eine Katastrophe zu verhindern, müssen wir abwägen zwischen der Notwendigkeit strenger Wirtschaftssanktionen gegen Russland und der Notwendigkeit, das aktuelle Niveau der Nahrungsmittelproduktion beizubehalten. Ich glaube, beides ist möglich.
3. Wir müssen umfassend zusammenarbeiten. Alle relevanten Parteien sollten dringend aufgefordert werden, Nahrungsmittel und damit verbundene Güter als lebenswichtig zu schützen und die Versorgung damit zu unterstützen, insbesondere in importabhängigen Ländern. Dies ist ein Aufruf an die Länder, ihre Getreidevorräte auf dem Markt bereitzustellen und die Bemühungen des Welternährungsprogramms zur Bekämpfung des Hungers zu unterstützen.
4. Und schließlich müssen Regierungen und Unternehmen sicherstellen, dass Kleinbauern und Landwirte, die vorwiegend für den Eigenbedarf produzieren, volle Unterstützung erhalten, damit sie ihre landwirtschaftlichen Erträge steigern können.
Als zwei weitere Maßnahmen werden die Notwendigkeit, Nahrungsmittelverluste in der Lieferkette zu reduzieren, und die Notwendigkeit, Kleinbauern zu unterstützen, genannt. Wie kann ein führendes Unternehmen in der Agrarwirtschaft wie Bayer dazu beitragen, in diesen Bereichen aktiv zu werden? Und wo kann Bayer sonst noch einen Beitrag leisten?
Bayer unterstützt aktiv die Reduzierung von Nahrungsmittelverlusten auf dem Feld und in der Lieferkette. Bei Obst und Gemüse geht im Schnitt ein Drittel der Ware während der Produktion oder des Transports verloren – einer von drei Äpfeln kommt also gar nicht erst in den Laden. Dies liegt an Schädlingen und Krankheitserregern auf dem Feld, die die Ernten bedrohen. Pflanzenschutzmittel tragen dazu bei, dass Ernten Transport und Feuchtigkeit überstehen, was für die Lieferkette von Nahrungsmitteln entscheidend ist.
Die 550 Millionen Kleinbauern auf der Welt produzieren rund 80 % der Nahrungsmittel in Entwicklungsländern, doch ihre Erträge liegen oft weit unter ihrem Potenzial. Bis 2030 wollen wir durch Schulungen, Anleitung und Zugang zu innovativen Saatgut- und Pflanzenschutzmitteln erreichen, dass 100 Millionen Kleinbauern ihre Produktivität steigern.
Darüber hinaus investieren wir intensiv in neue Agrarlösungen für Landwirte. Im Jahr 2021 haben wir mehr als 5 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgegeben. 2 Milliarden Euro des gesamten F&E-Budgets gingen in die Entwicklung von Agrarlösungen, die auf eine effizientere Nutzung von Ressourcen, größere Widerstandsfähigkeit sowie geringere CO2-Emissionen abzielen und die Produktivität steigern, die Bodenbearbeitung reduzieren und Ernteverluste minimieren. Dazu gehören Methoden der digitalen Landwirtschaft zur Beurteilung und Optimierung von Bodenzusammensetzung, Feuchtigkeit, Nährstoffgehalt, Witterungsverhältnissen, Saatgutsorten und vielem mehr, das zur Erzielung höherer Erträge benötigt wird.
Und schließlich gehört zur Bekämpfung der Nahrungsmittelknappheit auch der Kampf gegen den Klimawandel. Die Landwirtschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Reduzierung von Treibhausgasemissionen und Umweltauswirkungen, bei der Förderung der Biodiversität und bei der Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Nahrungsmittelsystemen. Jetzt ist es an der Zeit, Hungersnöte durch eine Steigerung nachhaltiger Produktivität zu verhindern. Unsere erste auf Landwirte ausgerichtete, wissenschaftlich fundierte und digital gestützte gemeinschaftliche Global Carbon Initiative bietet Anreize für den Einsatz klimaschonender Anbaumethoden.
Es gibt Bedenken, dass die Notwendigkeit, mehr Nahrungsmittel anzubauen und mehr Land zu roden, zu einer weiteren Verzögerung bei der Einführung nachhaltiger landwirtschaftlicher Praktiken und damit möglicherweise auch zu steigenden Nahrungsmittelpreisen führen könnte. Wird sich diese Krise tatsächlich negativ auf die Nachhaltigkeit auswirken?
Im Moment geht es in erster Linie um schnelle Unterstützung in Kriegszeiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir bei der Nachhaltigkeit Kompromisse eingehen werden. Wenn uns der Krieg eins lehrt, dann ist es die dringende Notwendigkeit, die Nahrungsmittelsysteme zu verändern und in eine nachhaltige Zukunft der Landwirtschaft zu investieren. Eine Zukunft, in der Familien und Gemeinden sich selbst ernähren und ihre Abhängigkeit überwinden können. Eine Zukunft, die dazu beiträgt, die globale Erwärmung zu begrenzen, sodass Nutzpflanzen wachsen können und gleichzeitig weniger Ressourcen verbraucht werden.
Mittel- bis langfristig sind Innovationen in der Landwirtschaft unverzichtbar, um der wachsenden Weltbevölkerung genügend Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Sie werden Landwirten helfen, höhere Erträge auf weniger Land zu erzielen, sich an den Klimawandel anzupassen und weniger abhängig von Stickstoffdüngemitteln zu werden. Wir betreiben mehrere Initiativen und Projekte, die darauf abzielen, mittel- bis langfristig ein widerstandsfähigeres, unabhängigeres Nahrungsmittelsystem zu schaffen, beispielsweise unsere CO2-Initiativen.
Und abschließend die Frage: Wie zuversichtlich sind Sie, dass internationale Institutionen, nationale Regierungen, der private Sektor, die Zivilgesellschaft und andere zusammenarbeiten werden – was dringend notwendig ist –, um den „Hurrikan des Hungers“ aufzuhalten?
Ich kann sagen, dass wir mehr als bereit sind, unseren Teil beizutragen, und uns unserer Verantwortung als wichtiger Akteur im globalen Nahrungsmittelsystem bewusst sind. Aber kein einzelner Beteiligter kann dies allein tun: Wir müssen mutig und in großem Rahmen zusammenarbeiten, um die Nahrungsmittelkrise zu bewältigen. Die Beendigung des Hungers ist eines der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bestehende Hindernisse für die Nahrungsmittelsicherheit und den Hunger auf der ganzen Welt überwinden können, wenn wir als internationale Gemeinschaft zusammenfinden und Nahrung als unverzichtbares Gut für die Menschheit anerkennen.
Den Eurasia Report über Nahrungsmittelunsicherheit finden Sie hier.