#120months – Ernährungssicherung

The Big Ag Short: Lasst uns nicht gegen unser globales Nahrungsmittelsystem wetten

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Am 24. Februar 2022 startete Wladimir Putin seinen rechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine – es ist ein Krieg, von dem er wenige Stunden zuvor noch sagte, dass er ihn nicht führen würde. Heute, fünf Wochen später, gehen seine Gräueltaten weiter - trotz groß angelegter diplomatischer Bemühungen und weitreichender Wirtschaftssanktionen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Dabei sind bereits tausende Zivilisten umgekommen, und Putin hat mehrfach humanitäre Korridore bombardiert. Mehr als vier Millionen Flüchtlinge haben das Land bereits verlassen und die größte Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Hunderte von Unternehmen und auch wir bei Bayer haben ihre Geschäftsaktivitäten in Russland eingeschränkt oder gestoppt, um klar Position gegen Putins Handlungen zu beziehen. Putin hat nicht nur eine unmittelbare und verheerende humanitäre Krise ausgelöst. Er nutzt auch weit über die Grenzen der Ukraine hinaus Lebensmittel als Kriegswaffe. Er setzt darauf, dass das weltweite Lebensmittelsystem zusammenbricht, und zwar in einer Weise, die Stalins Holodomor in den Schatten stellt


Schon vor dem Einmarsch war es um die weltweite Ernährungssicherung nicht gut bestellt. Die Weizenbestände standen bereits durch die Dürren, die der Klimawandel noch verschärft, unter Druck. Abgesehen von klimabedingten Ernteverlusten gehören die wachsende Nachfrage, die stärkere Neigung einiger Länder, lebenswichtige Güter über das für den eigenen Bedarf erforderliche Maß hinaus zu bevorraten, die Inflation der Energiepreise, die die Produktionskosten erhöht und die Verfügbarkeit von Dünger einschränkt, die physischen Unterbrechungen der Lieferketten, Konflikte und die andauernde Pandemie zu den Stressfaktoren. 2020 ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, in Folge der Pandemie zum ersten Mal wieder gestiegen. Zu den 635 Millionen Menschen, die von weniger als 1,9 US-Dollar am Tag leben und keine Möglichkeiten haben, die historisch hohe Inflation der Lebensmittelpreise zu bewältigen, sind weitere 97 Millionen hinzugekommen


Inmitten der Zuspitzung all dieser Faktoren hatte das Welternährungsprogramm im November letzten Jahres gewarnt, dass die Welt vor einer „katastrophalen Hungersnot“ steht, die über 800 Mio. Menschen betrifft. Und UN-Generalsekretär António Guterres sagte, dass ein „Hurrikan des Hungers und ein Zusammenbruch des globalen Ernährungssystems“ auf die Menschheit zukommen könnte. Um mehr Menschen zu helfen, müssen wir diesen „Sturm“ genauer analysieren. 


Ein Krieg in der Kornkammer Europas kann die ohnehin schon angespannte Lage weiter verschärfen. Die weltweite Versorgung mit Weizen ist hier ein gutes Beispiel: Insgesamt werden fast 40 Prozent des weltweiten Weizens in der Ukraine oder Russland produziert. Ein Großteil des ukrainischen Weizens wird im Südosten angebaut, zu dem auch Regionen gehören, die bisher am stärksten vom Krieg betroffen waren. Die Landwirte in der Ukraine kämpfen darum, die Ernten dieser Saison zu sichern. Das was geerntet werden kann, schafft es aber nicht unbedingt auf den globalen Markt, da Wirtschaftssanktionen und Gegenmaßnahmen die Region lahmlegen. Normalerweise würden die Landwirte in dieser Jahreszeit die Traktoren starten und die Frühjahrsarbeit auf den Feldern beginnen – in diesem Jahr mussten viele zu den Waffen greifen oder ihre Traktoren dafür nutzen, verlassene russische Panzer und Truppentransporter aus dem Weg zu schaffen. Aufgrund der zu erwartenden Unsicherheit werden die Landwirte in der Ukraine vermutlich Schwierigkeiten haben, ihren Anbau in der Kriegszone, in der sie jetzt leben, zu betreiben. Da die Ukraine ein bedeutender Exporteur von Weizen, Mais, Speiseöl und anderen wichtigen Waren ist, werden die Ressourcen knapp, wenn hier nicht angebaut werden kann. Knappere globale Ressourcen bedeuten höhere Preise – und höhere Preise treffen meistens diejenigen am stärksten, die am verwundbarsten sind.  


Diese Realität in der Ukraine wird noch durch den erheblichen Rückgang des aus Russland importierten Getreides und Düngers verschärft. Fast ein Drittel des in der Europäischen Union genutzten Düngers kommt in der Regel aus Russland, dem weltweit größten Produzenten. Darüber hinaus produziert Europa 9 Prozent des weltweiten Düngers unter Einsatz von russischem Gas. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres haben wir bereits den erheblichen Rückgang der chinesischen Düngerproduktion aufgrund der dortigen Energierationalisierung zu spüren bekommen. Damit sich der Kauf rechnet, braucht ein Landwirt in der Regel sechs Kilo Getreide, um ein Kilo Dünger zu bezahlen – dieser Preis ist nun bereits auf 10 Kilo Getreide gestiegen. Und weniger Dünger einzusetzen, wird nur den Druck auf das globale Lebensmittelsystem erhöhen. Das gescheiterte Düngeverbot in Sri Lanka verdeutlicht die fatalen Folgen, die ein solches Experiment – ob nun politisch geplant oder aus einer Not heraus – auf die Versorgung mit Lebensmitteln und das Leben der Menschen haben kann. Für jeden Prozentpunkt, zu dem der Düngerbedarf nicht gedeckt wird, haben schätzungsweise 25–32 Millionen Menschen nicht genügend Lebensmittel.


Außerdem könnte das Wetterphänomen La Niña die Ernten 2022 weltweit zusätzlich unter Druck setzen. Dürren in Nordafrika und dem Nahen Osten lassen hier bereits geringe regionale Ernten erwarten. Als Antwort auf diese Situation hat das Welternährungsprogramm der UNO bereits vor dem Einmarsch Folgendes berechnet: 283 Millionen Menschen sind aktuell akut von Hunger bedroht, davon sind 45 Millionen in 43 Ländern – häufig in Kriegsgebieten – kurz davor zu verhungern. Wir schätzen, dass der gesteigerte Druck auf den Lebensmittelsystemen dazu führen könnte, dass in den nächsten Monaten über 500 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht sind. 


Über die Fragen zu Ernährung hinaus machen uns das Klima und die politische Instabilität Sorgen. Die Auswirkungen auf den bestehenden globalen Klimanotstand sind unklar: Werden wir es zusätzlich zu den sich abzeichnenden humanitären und wirtschaftlichen Krisen mit Umweltkatastrophen zu tun haben? Viele Länder signalisieren bereits, dass sie in Betracht ziehen, den Übergang zu sauberen Energiequellen aufzuschieben, um weniger abhängig von russischem Öl und Gas zu sein. 


Die Europäische Union hat jetzt mehrere Maßnahmen beschlossen, um den Landwirten zu helfen, in Reaktion auf die Lebensmittelkrise die Produktivität zu steigern. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sind erleichtert zu sehen, dass wieder ein Fokus auf Produktivität gelegt wird. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir uns weniger um den Klimaschutz und die Artenvielfalt kümmern. Ganz im Gegenteil – es ist jetzt an der Zeit sicherzustellen, dass Produktivität mit verstärkten Bemühungen für Klimaschutz und Biodiversität einhergeht. Das wird ohne Innovationen wie Geneditierung, Digitalisierung und Biodünger, die es uns ermöglichen, in der Landwirtschaft Quantensprünge wie zuletzt dank der Grünen Revolution zu vollziehen, nicht möglich sein. Beim UN Global Food Summit hat die US-Regierung von Joe Biden die „Coalition on Sustainable Productivity Growth for Food Security and Resource Conservation”  vorgestellt. Das war ein wichtiger Schritt, der auf die europäischen Sorgen bezüglich der Grenzen unseres Planeten einging. Mit dem Beitritt zu dieser Koalition hat die EU einen entscheidenden Schritt für die transatlantische Zusammenarbeit zur Sicherung der Lebensmittelsysteme gemacht.


Politische Spannungen und Instabilität – vor allem in Ländern, die stark von Lebensmittelimporten abhängig sind wie Ägypten, dem Libanon und Nigeria – können auch zu einem erneuten Anstieg der Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa führen. Unter ohnehin schon prekären nationalen Bedingungen, entzündet Hunger den Funken, der zu Instabilität führt, und die Welt könnte Zeuge von vielen Konflikten gleichzeitig werden. Deshalb müssen wir uns sofort um die Folgen des russischen Einmarschs in die Ukraine kümmern. 


Sofortiger Handlungsaufruf zur Schadensbegrenzung und Vermeidung einer umfassenden Nahrungsmittelkrise


Nahrungsmittel sollten niemals als politisches Instrument eingesetzt werden. Aber leider besteht der einzige Weg, dies mittel- und langfristig zu verhindern, in der ausreichenden Lebensmittelproduktion, um gleichzeitig die Lebensmittelversorgung zu schützen und weiterhin auf das SDG 2 „Kein Hunger“ bis 2030 hinzuarbeiten. Debatten wieder anzufachen, die nachhaltige Produktion im Gegensatz zu ausreichender Versorgung sehen, ist hier nicht hilfreich. Der Moment für einen drastischen Paradigmenwechsel in unserer landwirtschaftlichen Ausrichtung ist längst überfällig. 

 

  1. Unsere Verantwortung bei Bayer 
    Als weltweiter Anbieter von Mais-, Soja- und Weizensaatgut hat Bayer eine große Verantwortung über unseren wirtschaftlichen Einflussbereich hinaus – eine Verantwortung gegenüber unseren Kunden, Mitarbeitern, Aktionären und der Gesellschaft als Ganzer. Um in einer Welt mit bald 10 Milliarden Menschen, die von Konflikten, Klimawandel, Corona und steigenden Kosten betroffen sind, für genügend Nahrungsmittel zu sorgen, werden wir unserer Verantwortung gerecht, einen Beitrag dazu zu leisten, wie wir mit weniger mehr produzieren. Wir investieren massiv in neue Agrarlösungen und sind entschlossen, Landwirten maßgeschneiderte Lösungen zur Verfügung zu stellen, die wichtige Instrumente zum Anbau, Wachstum und Schutz ihrer Ernten vereinen. 
     
  2. Anforderungen an die Politik 
    Warnstufen erhöhen: Wir rufen die Vereinten Nationen dazu auf, volle globale Aufmerksamkeit für das Risiko eines Zusammenbruchs unserer Lebensmittelsysteme einzufordern. 

Globale Einigkeit über den Ernst der Lage herstellen: Wir rufen das globale Stakeholder-Ökosystem dazu auf, einen Konsens zum Ausmaß der Verwundbarkeit des globalen Lebensmittelsystems zu bilden. Wir wissen, dass der beste Weg dazu darin besteht, ein gemeinsames Verständnis aller relevanten Daten als Grundlage zu nutzen, die aus dem G20 Agricultural Market Information System (AMIS), der Plattform Gro-Intelligence, den UN-Institutionen, der Entwicklungsbank und Einblicken der Unternehmen stammen. Dazu gehört auch das tatsächliche Ausmaß der übermäßigen Getreideeinlagerung weltweit.


Lebensmittel ganz oben auf die globale politische Agenda setzen: Obwohl es eine Erleichterung war zu sehen, dass das Thema bei den G7-Gesprächen und anderswo auf den Tisch kam, muss unser Lebensmittelsystem noch weiter oben auf der globalen politischen Agenda und zwar noch vor den globalen Energiemärkten stehen, ganz gleich, ob es nun um die G7, G20 oder die COP27 geht. 


Ernten in den Konfliktgebieten ermöglichen: Wir rufen alle Beteiligten dazu auf, Ernten in den Konfliktgebieten zu sichern und zu unterstützen und ungewollte Auswirkungen der Sanktionen zu vermeiden, damit der Weltmarkt Zugang zu der erheblichen Produktionsleistung der Agrarprodukte (Dünger, Kaliumkarbonat), zu Getreide und Speiseöl aus Russland, Belarus und der Ukraine hat. Dies steht im Einklang mit der AMIS-Empfehlung vom 5. März 2022.


Länder zum Freigeben von Lagerbeständen aufrufen: Regierungen, die Panikkäufe tätigen oder Lebensmittel in Krisenzeiten horten, riskieren mit ihrem Egoismus katastrophale Folgen. Wir rufen die Länder, die aktuell über große Getreidebestände verfügen, unmissverständlich dazu auf, diese dem Markt zur Verfügung zu stellen und den Kampf gegen den Hunger des UN-Welternährungsprogramms zu unterstützen. 


Finanzielle Liquidität sicherstellen: Wir rufen den IMF, die Weltbank und wichtige Geberländer dazu auf, sich auf die Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit belasteter, Lebensmittel produzierender und importierender Länder zu einigen. Dazu gehören auch Programme, die direkt die unter der Ernährungsunsicherheit leidenden Menschen erreichen. Die Gefahr eines Zusammenbruchs des globalen Lebensmittelsystems sollte zur Priorität der Frühjahrstagung dieser Institutionen gemacht werden.


Einen globalen Plan erstellen, um den Zusammenbruch zu verhindern: Das Stakeholder-Ökosystem muss die Ergebnisse des UN Global Food Summits nutzen und die wichtigsten Akteure der globalen Lebensmittelmärkte dafür gewinnen, für 2022 bis 2025 einen globalen Plan gegen die steigende Nahrungsmittelunsicherheit zu entwickeln. Die Unterstützung eines Lebensmittelstabilitätsausschusses (Food Stability Board) könnte dazu beitragen, Lehren aus historischen Krisen zu dokumentieren, Markttransparenz zu gewährleisten, auf Marktstörungen zu reagieren und Handelsstrategien zu entwickeln, die allen Verbrauchern zugutekommen. Das wird nicht nur die Preise stabilisieren, sondern auch Risiken in den Lebensmittelsystemen überwachen und koordinieren.


Zusammenarbeit ist zentral: Wir müssen alle wichtigen globalen Akteure an einen Tisch bringen, um über schnelle und groß angelegte Maßnahmen zu beraten, die von der Wirtschaft unterstützt werden. Idealerweise würde dabei die Expertise eines breiten Spektrums öffentlicher und privater Einrichtungen gebündelt, darunter die Welternährungsorganisation, das Welternährungsprogramm, die Weltorganisation für Meteorologie, die OECD und die CEOs von Unternehmen wie ChemChina, COFCO, Bayer, Bunge, CBH Group, Cargill, Dreyfus, YARA und weiteren. 


Kleinbauern und Subsistenzwirtschaft unterstützen: Diese Landwirte sind essentiell, um die Lebensmittelversorgung sicherzustellen, häufig vor allem in Gemeinden, die am stärksten von externen Engpässen betroffen sind. Das gilt jederzeit, aber vor allem in Krisenzeiten. Der private und der öffentliche Sektor müssen zusammenarbeiten um sicherzustellen, dass Kleinbauern und Familien, die Subsistenzwirtschaft betreiben, volle Unterstützung erhalten, um ihre Erträge zu steigern.

 

Ertharin Cousin
Ertharin Cousin
Mitglied des Aufsichtsrat der Bayer AG
Matthias
Matthias Berninger
Leiter Sustainability bei Bayer
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