in der Europäischen Union
Pflanzenschutzmittel werden in der Regel durch regulatorische Standard-Verfahren zugelassen. In außergewöhnlichen Situationen kann es jedoch Ausnahmen geben, sogenannte „Notfallzulassungen“.
Bevor ein Pflanzenschutzmittel zur Verwendung in der Europäischen Union (EU) zugelassen wird, durchläuft es gründliche Beurteilungen und Analysen, die sicherstellen, dass das Produkt für Menschen und Umwelt sicher verwendet werden kann. Das EU-Recht sieht strenge Kriterien für dieses Verfahren vor, welches circa drei Jahre in Anspruch nimmt.
Manchmal sehen sich Landwirte jedoch mit Ausnahmesituationen konfrontiert, in denen ein (noch) nicht genehmigtes Pflanzenschutzmittel die einzige verfügbare Option sein kann, um einer unmittelbar bevorstehenden Gefährdung ihrer Pflanzen und damit der Ernte erfolgreich begegnen zu können.
In derartigen Fällen erkennt das EU-Recht an, dass ein schnelles Eingreifen zum Schutz der Ernte des Landwirts vor ansonsten unvermeidbaren Verlusten erforderlich ist. Aus diesem Grund beinhaltet die Pflanzenschutzmittelverordnung eine Bestimmung, die EU-Ländern sogenannte „Notfallzulassungen“ ermöglicht.
Notfallzulassungen sind vorübergehende Genehmigungen, die nur in Ausnahmesituationen und nach spezifischen Bedingungen zulässig sind. Sie ermöglichen eine begrenzte und kontrollierte Verwendung eines Mittels für eine bestimmte Nutzpflanze über einen Zeitraum von maximal 120 Tagen während eines Jahres.
Notfallzulassungen dürfen nur gewährt werden, wenn sie absolut erforderlich sind: EU-Länder müssen daher immer eine umfangreiche Begründung für ihre Entscheidung vorlegen. Zudem wird der erste Antrag auf eine Notfallzulassung in der Regel von Vereinigungen von Landwirten und nationalen Agrarverbänden in dem betroffenen EU-Land erstellt. Diese Vereinigungen kennen sowohl die landwirtschaftlichen Bedingungen vor Ort, als auch die Lösungen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie sind daher am besten in der Lage, bei Bedarf Anträge zu stellen.
Die folgenden Situationen stellen allesamt Gründe für die Gewährung einer Notfallzulassung durch ein EU-Land dar:
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Das Mittel ist nur zur Anwendung für bestimmten Nutzpflanzen zugelassen, weshalb eine separate Zulassung für eine andere Nutzpflanze erforderlich ist.
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Das Mittel enthält einen auf EU-Ebene neu zugelassenen Wirkstoff, aber das betroffene EU-Land hat Mittel mit diesem Wirkstoff noch nicht zugelassen.
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Das Problem wird durch eine neue, invasive Spezies verursacht, die in der speziellen geografischen Umgebung nicht heimisch ist, sodass derzeit keine Mittel zur Anwendung zugelassen sind.
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Die einzige wirksame Lösung ist die Anwendung eines Mittels mit einem nicht zugelassenen Wirkstoff. Das kann ein neuer, noch nicht zugelassener Wirkstoff, ein zuvor zugelassener, aber zurückgezogener Wirkstoff, ein Wirkstoff, dessen Zulassung gänzlich abgelehnt wurde, oder ein nie in der EU zugelassener Wirkstoff sein.
Tomatenerzeuger in Portugal bemerkten bereits in einem Zweijahreszeitraum vor 2018 eine erhebliche Zunahme einer bestimmten Milbenart. Werden diese Milben, auch Gallmilben genannt, nicht behandelt, verursachen sie erheblichen Schaden, sowohl an den Tomatenpflanzen als auch den Früchten. Das führt zu Ernteverlusten und beschädigten Pflanzen. Den Landwirten fehlte es an einem geeigneten Mittel zur Kontrolle dieses Schädlings. Schwefelpulver beispielsweise, kann nur in den frühen Wachstumsphasen aufgetragen werden und ist nicht wirksam, wenn die Pflanzen bereits voll ausgebildet sind.
Diese Situation erforderte die Notfallzulassung des Mittels Oberon®, welches hochgradig wirksam gegen Gallmilben ist. Oberon war bereits zur Verwendung in anderen EU-Ländern, darunter Spanien, zugelassen, da seine Wirksubstanz (Spiromesifen) bereits auf EU-Ebene zugelassen worden war. Der Grund für die fehlende Zulassung in Portugal zu dieser Zeit war, dass das standardmäßige Produktzulassungsverfahren, das in diesem Fall eine gegenseitige Anerkennung der spanischen Produktzulassung beinhaltete, noch nicht abgeschlossen war. Dank einer zwischen Mai und August 2018 gültigen Notfallzulassung ermöglichten die portugiesischen Behörden ihren Landwirten den Zugang zu einem wichtigen Instrument zur Rettung ihrer Ernte und Nutzpflanzen.
Sämtliche belgische Birnenplantagen waren im Jahr 2018 von Insekten namens Birnenblattsaugern befallen. Diese Schädlinge befallen Birnenbäume, indem sie eine Nekrose (ein Welken) der Blätter und Blütenknospen verursachen und die Pflanzen so effektiv an der Photosynthese hindern. Birnenblattsauger schädigen auch die Birnen selbst: Die die Auswirkungen reichen von Hautschäden, einer sogenannten Berostung, bis hin zum Erscheinen einer Art von Schimmel, der die Frucht schwärzt. Die schlechte Qualität der Früchte und die Erkrankung der befallenen Bäume stellten eine erhebliche Bedrohung für belgische Birnenplantagen dar: 2016 wurden geschätzte 20 bis 30 Prozent der landesweiten Birnenernte von Birnenblattsaugern geschädigt, was einem wirtschaftlichen Verlust von 30 bis 45 Millionen Euro entsprach.
Die Birnenblattsauger gedeihen in den klimatischen Bedingungen Belgiens sehr gut und können bis zu vier oder fünf Generationen in einem Jahr produzieren. Das bedeutet, dass eine ganzjährige Kontrollstrategie zu ihrer Eindämmung erforderlich ist. Allerdings können die den Erzeugern zur Verfügung stehenden Mittel das Problem nicht immer in den Griff bekommen.
So entwickelt sich beispielsweise die zweite Generation der Birnenblattsauger vor allem im Frühling und befällt ganze Bäume. Die Erzeuger können zur Bekämpfung Mittel mit Abamectin verwenden, dürfen das Mittel aber nicht über einer Höhe von zwei Metern sprühen. Die meisten Birnenplantagen weisen jedoch Bäume mit einer Höhe von über drei Metern auf. Es gibt zwar andere Mittel, welche die Birnenblattsauger aber weniger wirksam kontrollieren und zudem Nutzinsekten schaden können, sodass diese Mittel keine tragfähigen Optionen sind.
Im Sommer war ein Kaliumhydrogencarbonatspray für die Erzeuger die einzige Option, um die Birnenblattsaugerpopulation zu begrenzen. Diese Substanz ist allerdings für Situationen mit weniger Schädlingen besser geeignet, nicht aber für Fälle, in denen sich die Birnenblattsauger bereits wesentlich ausgebreitet haben.
Es gibt jedoch ein Mittel namens Movento® (mit der Wirksubstanz Spirotetramat), das gegen Birnenblattsauger wirkt und ein vorteilhaftes Sicherheitsprofil für Nutzinsekten aufweist. Die belgischen Erzeuger durften dieses Mittel aber nur einmal in der Vegetationszeit auftragen, obwohl eine zweite Anwendung erforderlich war, um den ganzjährigen Kontrollbedarf zu decken.
Behörden in Österreich hatten diese zweite Anwendung von Movento für von Birnenblattsaugern befallene Bäume bereits zugelassen. Diese Zulassung wäre schlussendlich auch in Belgien mittels eines Verfahrens namens gegenseitiger Anerkennung in Kraft getreten, aber wahrscheinlich nicht rechtzeitig. Die Erzeuger wären daher wirtschaftlich anfällig für weiteren Schaden durch Birnenblattsauger gewesen. Belgien gewährte also zur Rettung der Vegetationszeit 2018 eine Notfallzulassung für eine zweite Anwendung von Movento zwischen Mai und Juni 2018.
Die Olivenfruchtfliege ist der Schädling, der sich am stärksten auf Olivenhaine in Spanien auswirkt. Ihre Larven ernähren sich von Oliven und schädigen das Fruchtfleisch, sodass die Früchte vorzeitig von den Bäumen fallen. Das wiederum führt zu Ernteeinbußen von sowohl Olivenöl- als auch Tafeloliven und wirkt sich auf die Qualität des daraus gewonnenen Öls aus, da es saurer wird und die Haltbarkeit abnimmt.
Traditionell bekämpften die Erzeuger die Olivenfruchtfliege mit Insektizidsprays. Diese Sprays reichten jedoch nicht immer zur Kontrolle der Schädlinge aus und eigneten sich zudem nicht zur Verwendung im biologischen Landbau.
2018 stand eine neue Methode zur Kontrolle der Olivenfruchtfliege zur Verfügung: Fliegenfallen, die im Hain platziert werden und die Schädlinge mithilfe der in der EU zugelassenen Wirksubstanz Deltamethrin kontrollieren. Diese Fallen sind eine wirksame Option zur Kontrolle der Olivenfruchtfliege, da sie ein sehr geringes Risiko für Menschen und die Umwelt aufweisen, einfach weil das Mittel keinen direkten Kontakt zu den Oliven hat.
Angesichts der Schwere des Befalls mit Olivenfruchtfliegen in den letzten Jahren benötigten die Erzeuger dringend Zugang zu diesen Fallen. Das Mittel war jedoch noch nicht zur Verwendung zugelassen, da der Zulassungsantrag noch von den französischen Behörden beurteilt wurde (diese waren für die Bewertung des Antrags im Namen der Länder in Südeuropa verantwortlich). Daher gewährte Spanien eine Notfallzulassung für diese Fliegenfallen von April bis August 2018 und stellte so sicher, dass seine Erzeuger Zugang zu einer umweltfreundlichen Lösung erhielten. So konnten sie dramatische Ernteausfälle vermeiden.
Sie finden die von EU-Ländern gewährten Notfallzulassungen in der Datenbank für Notfallzulassungen der Europäischen Kommission. Weitere Informationen zum Standard-Zulassungsverfahren der EU finden Sie auf der Seite „Approval of active substances“ der Europäischen Kommission.
Weitere Einzelheiten finden Sie im Text der Pflanzenschutzverordnung der EU. Nachstehend finden Sie den Wortlaut von Artikel 53 dieser Verordnung, der Notfallzulassungen betrifft.
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Abweichend von Artikel 28 kann ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen für eine Dauer von höchstens 120 Tagen das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels für eine begrenzte und kontrollierte Verwendung zulassen, sofern sich eine solche Maßnahme angesichts einer anders nicht abzuwehrenden Gefahr als notwendig erweist. Der betroffene Mitgliedstaat informiert unverzüglich die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission über seine Maßnahmen und legt detaillierte Informationen zur Situation und zu den Maßnahmen für die Verbrauchersicherheit vor.
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Die Kommission kann die Behörde um eine Stellungnahme oder um wissenschaftliche oder technische Unterstützung ersuchen. Die Behörde übermittelt der Kommission ihre Stellungnahme oder die Ergebnisse ihrer Arbeit innerhalb von einem Monat nach dem Zeitpunkt des Ersuchens.
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Gegebenenfalls wird eine Entscheidung nach dem in Artikel 79 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren darüber erlassen, wann und unter welchen Bedingungen der Mitgliedstaat
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die Dauer der Maßnahme ausdehnen oder die Maßnahme wiederholen darf bzw. dies nicht tun darf; oder
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die Maßnahme zurücknehmen oder abändern muss.
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Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht für Pflanzenschutzmittel, die genetisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen, es sei denn, eine solche Freisetzung ist gemäß der Richtlinie 2001/18/EG zulässig.