Was bewirkt das CRISPR-Urteil in Europa?

A close up of a sword with a blurred background.

Im Sommer 2018 stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass Pflanzen, die mit Hilfe neuartiger biotechnologischer Verfahren wie Genome Editing erzeugt wurden (u.a. mit der CRISPR/Cas-Technologie), als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) zu betrachten und entsprechend nach der GVO-Richtlinie aus dem Jahr 2001 zu regulieren sind.

Das Gerichtsurteil wurde als schwerer Schlag für den Forschungsstandort Europa aufgenommen.

 

KOMMENTARE IN DEN MEDIEN


Die Süddeutsche Zeitung sprach von einem „Fehlurteil, rückwärtsgewandt und folgenreich“, mit dem „wieder einmal die Angst gewonnen hat“.

 

Für Spiegel Online war der Tag des Urteils durch den Europäischen Gerichtshof ein „trauriger Tag für Europa“ und ein „Abschied von den Fakten“.

 

ZEIT Online bezeichnete das Urteil als „gefährlichen Rückschritt“. Weiter hieß es: „Das Urteil reiht sich ein in eine europäische Tradition von richterlichen Entscheidungen, die eher von einem Misstrauen in die Wissenschaft und einer gewissen Fortschrittsangst geprägt sind als von dem Vertrauen in die Chancen neuer Technologien.“

 

Eine Gastkommentatorin in der Frankfurter Allgemeinen sprach von einer „fatalen Entscheidung“ des Gerichts, und stellte fest: „Mit diesem Urteil hat die europäische Vernunft ausgedient.“

 

KOMMENTARE AUS DER WISSENSCHAFT


Gerade junge Forscher machten ihrem Ärger auf Twitter Luft. „Das Urteil ist enttäuschend, die Begründung nicht nachvollziehbar. (…) Es wirft uns weit zurück und hindert uns, mittels CRISPR & Co. sinnvolle Beiträge für die Landwirtschaft zu leisten“, schreibt zum Beispiel Robert Hoffie, ein Doktorand am Leibniz-Institut in Gatersleben, der deutschen Hochburg für Pflanzenforschung.

 

Hendrik Hanekamp, der gerade an der Universität Göttingen seine Promotion abgeschlossen hatte, kommentierte: „Gute Nacht Forschungsstandort EU. Gute Nacht Sachlichkeit. Gute Nacht Aufklärung.“

 

Der renommierte Biologe Detlef Weigel, Direktor am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen, fasste seine Sicht auf das Urteil so zusammen: „Es ist ein Tritt in die Magengrube für unsere hart arbeitenden Studenten und Postdocs, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen.“

 

Denn man hatte Angst vor den Folgen des Urteils:

 

  • Europäische Innovationen in der Landwirtschaft auf Basis der Präzisionszüchtung/Genom-Editierung könnten durch die hohen Auflagen der GVO-Richtlinie zum Erliegen kommen. Die Pflanzenzüchtung in Europa könnte weltweit ins Hintertreffen geraten und noch mehr der besten Wissenschaftler könnten Europa verlassen.
  • Kleine und mittlere Pflanzenzüchter könnten keine Möglichkeit haben, diese Technologie zu nutzen, da sie den teuren Zulassungsprozess nicht bezahlen können.
  • Europäische Landwirte könnten keine Möglichkeit haben, durch Genome Editing verbesserte Nutzpflanzen anzubauen, die z.B. klima-toleranter sind oder ein verbessertes Nährstoffprofil haben.

 

BEFÜRCHTUNGEN BEWAHRHEITEN SICH


Bereits in den ersten Wochen und Monaten nach dem Urteil haben sich die ersten Folgen gezeigt. Zum Beispiel in Belgien: Hier wurden der Forschung höhere Auflagen gemacht und konkrete Innovationen erschwert.

 

„Ein Maisfeldversuch, den wir seit über anderthalb Jahren in Belgien durchführen, wurde plötzlich als Gentechnik-Feld betrachtet“, erklärt Dirk Inzé, wissenschaftlicher Leiter der VIB-UGent-Zentrum für Anlagensystembiologie in Gent, Belgien. Aufgrund des Urteils haben die lokalen Behörden zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen gefordert, wie z.B. einen Zaun und umfangreiche Dokumentationen.

 

Ein belgisches Start-up, das die CRISPR-Technologie zur Unterstützung der afrikanischen Bananenindustrie einsetzen wollte, verlor innerhalb weniger Tage nach dem Urteil seine Finanzierung. Ziel des Start-ups war es, eine essbare Banane zu entwickeln, die gegen die Panamakrankheit und den schwarzen Sigatoka resistent ist, zwei Pilzschädlinge, bei denen 80.000 afrikanische Züchter das Risiko haben, ihre gesamte Ernte zu verlieren.

 

DIE WISSENSCHAFTLER STEHEN AUF


Um sich und den Forschungsstandort Europa zu verteidigen, haben sich führende Wissenschaftler aus mehr als 85 europäischen Instituten der Pflanzen- und Biowissenschaftsforschung zusammengeschlossen. Ende Oktober 2018 veröffentlichten sie ein Positionspapier, in dem sie die Politik eindringlich auffordern, zugunsten der Wissenschaft so schnell wie möglich zu handeln. „Genom-editierte Organismen als GMO zu regulieren“, heißt es in der Überschrift der Forscher, „hat negative Konsequenzen für die Landwirtschaft, die Gesellschaft und die Wirtschaft“.

 

Im November 2018 haben sich mehr als 130 Akteure der akademischen Pflanzenforschung in Deutschland in einem Offenen Brief an die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, sowie an die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, gewandt. Sie fordern die Politik zu einer differenzierten Bewertung, verantwortungsbewusstem Handeln und einem ergebnisorientierten Dialog auf.

 

Auch ALLEA, die Europäische Föderation der Akademien der Wissenschaften, die mehr als 50 Akademien aus über 40 Ländern in Europa vertritt, sprach sich inzwischen in einem Bericht mit dem Titel “Genome Editing for Crop Improvement” für eine Neubewertung des Genome Editings aus. Die europäische Gesetzgebung solle sich an den Merkmalen einer neuen Pflanze orientieren und nicht an der Technik, mit der sie erzeugt wurde. Quelle

 

Als Reaktion auf das Urteil und die dadurch ausgelöste Debatte hat der Rat der Europäischen Union die Kommission ersucht, eine Untersuchung zum Status neuartiger genomischer Verfahren im Rahmen des Unionsrechts in Auftrag zu geben. Diese Untersuchung liegt seit April 2021 vor und kommt zu dem Urteil, mit Genome Editing erzeugte Sorten verfügten „über das Potenzial, zur Verwirklichung der Ziele des Grünen Deals der EU und insbesondere der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und der Biodiversitätsstrategie sowie der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) für ein widerstandsfähigeres und nachhaltigeres Agrar- und Lebensmittelsystem beizutragen.“ Als Beispiele nennt das Gutachten Pflanzen, die widerstandsfähiger gegenüber Krankheiten und Umweltbedingungen oder allgemeinen Auswirkungen des Klimawandels sind, die verbesserte agronomische oder nährwertbezogene Merkmale besitzen, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln verringern und eine schnellere Pflanzenzucht erlauben. Quelle

 

Welche Maßnahmen die EU-Kommission wann beschließen wird, ist noch unklar.